Aussteigerschicksal: Flucht in den Wald

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Wie Stülpner-Karl leben die Wegners versteckt auf einer Lichtung im erzgebirgischen Wald.

Es war Zeit und es war ohnehin kein Geld mehr da. Als letztes Jahr der Oktober anbrach, zogen Elke und Herbert Wegner die Konsequenz aus einem, wie Elke Wegner heute sagt, "verpfuschten Leben". Das Paar, seit mehr als 53 Jahren verheiratet, aber kinderlos und ohne erlernten Beruf, packte seine Siebensachen und verließ die gemeinsame Wohnung in einer anonymen Neubauvorstadt von Leipzig, um ein neues Zuhause am Rand einer Waldlichtung in der Nähe einer recht sauberen Trinkwasserquelle im Thüringer Wald zu beziehen.  

Nur was wir tragen konnten

"Wir haben nur mitgenommen, was wir tragen konnten", beschreibt der 76-jährige Herbert Wegner. Allerdings sei er fünfmal gefahren, um alles an den Ort zu bringen, was das Ehepaar für seine letzten Jahre zu benötigen glaubt." Sogar ein Solarpanel mit Batterie haben wir", schwärmt Wegner. So könne man das mitgebrachte Radio aufladen und informiert bleiben. Für ihn sei das die Erfüllung eines Kindheitstraumes, gesteht er. "Der Stülpner-Karl, das war immer Idol und so wie Robin Hood mit Freunden im Wald leben, das erschien mir erstrebenswert."

Trotzdem absolvierte auch Wegner schließlich ein ganz normales Leben. Lehre, "krummmachen in der Produktion", wie er sagt, schließlich, "als der Rücken nicht mehr mitmachte", der Wechsel in eine Hausmeisterstelle. Mindestlohn, Armut. Auch Ehefrau Elke traf die Wende in der DDR hart. Erst kam die Kündigung im VEB Textima, wo sie bis dahin als Gehilfin in der Ferienplatzvergabestelle eingesetzt gewesen war. Dann Jahrzehnte voller Umschulungen und schließlich die Frühverrentung. "Uns ging es trotzdem gut", sagt sie, "wir hatten sogar Netflix." 

Ende der schönsten Lebensphase

Mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine aber endete diese "schönste Lebensphase", wie Herbert Wegner schwärmt. Die Preise stiegen, die Minirenten der beiden rüstigen Senioren zwar auch, aber "nicht schnell genug", wie Elke Wegner sagt. "Das Leben ist für uns einfach zu teuer geworden", begründet Herbert Wegner die Entscheidung, dem gewohnten Alltag den Rücken zu kehren und sich in den Wald zurückzuziehen. "Tanken, Lebensmittel, Heizen", zählt der schmale, knorrige Sachse auf, "das überfordert uns nur noch." Zusammen mit den Ausgaben für die Miete sei am Monatsende zuletzt nichts mehr übrig gewesen, man habe von der Hand in den Mund gelebt, "wie ein Hund", sagt Wegner, der nun das Beste aus dem schweren Schicksal machen will, das "ich meiner Frau leider nicht ersparen konnte". 

Dabei hatten beide beinahe ihr ganzes Leben lang einen Job oder sie waren in Maßnahmen geparkt, um Maschine- oder Bewerbungen schreiben zu lernen. "Wir zählten mit unserem Einkommen sicher nicht zur Mittelschicht", glaubt Herbert Wegner, "aber wir waren sparsam und sind zurechtgekommen." Sogar ein kleines Auto haben sich leisten können, "gebraucht, aber gepflegt", sagt Elke Wegner, die als Rentnerin einem 520-Euro-Job nachging, bis die Bäckerei, in der sie tätig war, das Backen vorübergehend einstellte. 

Eine Woche Seenplatte

In all diesen Jahren seien sie nur einmal für eine Woche an die Mecklenburgische Seenplatte gefahren, nicht nur, weil Benzin eigentlich immer zu teuer war, sondern auch aus Klimagründen, die seiner Frau Elke schon wichtig waren, als es Fridays for Future noch gar nicht gab. "Wir hatten bei den hohen Lebenshaltungskosten keine Chance, Geld zu sparen oder etwas zurückzulegen, Extras waren nie drin." Aber das soll sich nun ändern. Mit dem großen Ausstieg, der auch ein großer Einschnitt in den gewohnten Alltag sein wird, plant das Ehepaar einen kompletten Neuanfang: Die 55-Quadratmeter-Wohnung mit Heizung tauschen beide gegen eine geräumiges Tipi und einen alten Wohnwagen, den ein Freund spendiert hat. Alles steht inmitten der Natur. Zehn zusätzliche Quadratmeter beschert ihnen eine Plane, dass Wegners draußen vor den Wohnwagen nageln will. "Auch dieser Teil wird gegen Mäuse sichert, isoliert und winterfest ausbaut." Hier sollen später der mit Propangas betriebene Kühlschrank und eine Mini-Küche stehen.

Gekocht wird am offenen Feuer, Holz genug finde sich ringsum im Wald. "Mit dem privaten Besitzer des Grundstücks ist alles abgesprochen, ihn hat unser Schicksal einfach gerührt", sagt Elke Wegner, die auch in den eher kühlen Tagen derzeit nichts vom alten Komfort vermisst. "Unsere monatlichen Ausgaben für Miete einschließlich der Nebenkosten sind jetzt bei nahezu null, zum ersten Mal schauen wir ohne finanzielle Sorgen in die Zukunft", sagt Ehemann Herbert, der fest überzeugt ist, dass künftig mehr Menschen das Wohnen in der Wildnis für sich entdecken werden, "ganz einfach, weil es günstiger ist". 

 Erste Erfahrungen sammeln

Selbst für seine Frau, die anders als er bislang noch keine Berührungspunkte mit dem Leben im Freien und keine Träume von einer Existenz wie Stülpner-Karl hatte, sei der Wechsel aus der Stadt in vom Dorf auf einen zumindest im Winter wenig belebten Platz im Wald "keine Riesenumstellung" gewesen. "Der Gedanke an das viele Geld, das wir sparen, und die viele Ruhe, die wir nun haben, lässt sie glauben, dass wir so glücklich werden." 

Für sie beide gehe es im Moment noch darum, direkt in der kühlen Jahreszeit die ersten Erfahrungen mit dem spartanischen Leben zu sammeln. "Wir haben nie viele Dinge besessen, aber nun haben wir fast nichts mehr." Das erleichterte Gefühl, dass sich daraus ergebe, versuchten sie beide "richtig auszukosten, indem wir den Verlust annehmen." Ohne Sofalandschaft und Bett, dafür aber 24 Stunden meist im Freien beieinander, "das hat unserer Partnerschaft eine neue Dringlichkeit gegeben".  Elke und Herbert Wegner haben ihre Entscheidung nicht bereut. "Und wenn es mal hart wird, dann stärkt uns der Gedanke, dass wir Platz gemacht haben für eine junge Familie."



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Jahrzehnte voller Umschulungen und Frühverrentung klingt eigentlich nicht nach beinahen ganzes Leben lang Job...

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